Der deutsche Schriftsteller und Schauspieler Joachim Mayerhoff beschreibt in seinem Roman „Alle Toten fliegen hoch - Amerika“ sein Leben als Austauschschüler im Alter von 17 Jahren im amerikanischen Wyoming, pointiert, präzise und humorvoll. Diese und einige andere Lektüren las ich, um mich auf mein Jahr in den Staaten einzustimmen - ein Jahr, das so vielfältig und abwechslungsreich, lehrreich und speziell wurde, dass es mir jetzt wahrlich schwer fällt, aus dieser Fülle eine Situation aufzugreifen und hier ein wenig zu beschreiben. Mayerhoff erzählt von der Länge und Wuchtigkeit seines Jahres, die er und auch ich vor meinem Start nicht einschätzen konnte und vom Moment der Realisierung, wenn man begreift, wie viel Zeit sich vor einem erstreckt und wie anders und ungewohnt das Umfeld und Leben sich um einen herum gestaltet. Auch ich habe Ende August, drei Wochen nach meiner Ankunft, so wie Mayerhoff im Buch als Heimwehschrein beschrieben, eine Fülle von mitgebrachten Fotos und kleinen Dingen wieder demontiert, die ich nach meiner Ankunft in der fremden Wohnung verstreut, abgestellt, gehängt und platziert habe und endlich meinen demonstrativ offen geblieben, halbgefüllten Reisekoffer vom Ankunftstag, der noch immer an derselben Stelle am Wohnzimmerboden verweilte, komplett ausgepackt. An diesem Tag, die drückende Hitze hier in Decatur bei Atlanta und die heiße Luft drang über die offene Balkontür in die Wohnung, wurde mir klar, dass ich mich auf das kommende Jahr einlassen muss – ehrlich und ganz.
Monate später, Ende November, nahte eines der für mich spannendsten Feste und von meinen Arbeitskolleginnen und Kollegen und den Studierenden als das kulinarische Highlight des Jahres angepriesen. Ich war bereits äußerst gespannt, ob mein erstes „Thanksgiving-Dinner“ in Amerika Ähnlichkeit mit den unzählig gesehenen Szenen im Fernsehen hat und ich auch tatsächlich die Klassiker der amerikanischen Küche und einen riesig gefüllten Truthahn zu erwarten hatte. Wochen davor trudelte bereits eine Einladung zu einem Essen ein, das jährlich bei einer Familie gehalten wird, deren Gastgeberin vor Jahren durch ihr Fulbrightstipendium das erste Mal die Staaten verließ und seither durch Vertrautheit mit dem Programm und Anerkennung gegenüber der Teilnehmenden zum jährlichen „Thanksgiving-Dinner“ zusammenruft. Am besagten Tag machten wir uns also gemeinsam mit Blumen und kleinen Köstlichkeiten bestückt im Auto Richtung Ostatlanta auf, um dort von einer liebevollen und doch gänzlich fremden Familie ins Haus gebeten wurden und erst spät am Abend beladen mit vielen Anekdoten, Geschichten, Wissen und den wenigen Überbleibseln eines wahrhaft aufgezeichneten Essens wieder nach Hause aufzubrechen. Estelle, die Gastgeberin, hatte ihre ganze Familie zusammengetrommelt, ihren über 90 Jahre alten Vater, ihre Schwester ist aus Detroit angereist, ihr Bruder und seine Frau und ihre drei Söhne und die Jüngste im Bunde, ihre bis jetzt einzige Nichte, waren bereits um den Wohnzimmertisch versammelt. Estelle und ihre Schwester hatten Stunden in der Küche verbracht, die Tische waren bereits gedeckt und köstlicher Geruch von Gebratenem lag in der Luft.
„The bird needs some more time“ erklärte Estelle und begann sich mit uns durch die Familienalben zu graben, die in vielfacher Ausführung im Regal im Wohnzimmer aufzufinden waren. Estelle kannte jeden Namen der vielen Abgebildeten und veranschaulichte verbal das Atlanta der 70er und 80er Jahre, benannte die lachenden Gesichter der Fotos von Familienfeiern, von Neugeborenen in hübschen Kleidern und aufgeregten Teenagern in Abendroben in Vorfreude auf den Abschlussball. Estelles Schwester hatte alle Fotos mit kurzen Beschreibungen versehen und das Datum klein ans untere Eck gesetzt. Wir lachten beim Anblick der Mode, die man damals getragen hatte und wurden still, wenn Estelle mit ihrem Finger auf einen Onkel oder eine Cousine zeigte und meinte, es sei das letzte Foto, das von dieser Person gemacht wurde. Die Familie, ursprünglich aus Detroit, kam in den Süden, als Estelle und ihre Geschwister noch Kinder waren. Der Kampf gegen Rassentrennung durch Sitzstreiks, Demonstrationen und öffentliche Reden, war gerade voll im Gang und Estelle, ihre Schwester und ihr Vater erinnerten sich an die klaren Regeln, die sie und ihre Familie im Alltag zu befolgen hatten, wo Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner einkaufen gingen, wo man ins Theater ging, welche Schule besucht werden durfte und in welcher Nachbarschaft man wohnen konnte, wo man im Bus saß und mit wem man verkehrte und mit wem nicht. Estelle illustrierte wie schwierig es damals war, wie getrennt die Gesellschaft war und wie der Zustand heute ist und dass man noch immer oft das Gefühlt hat, die Umstände hätten sich für sie und ihre Familie gar nicht so sehr verändert. Wir diskutierten über das öffentliche Verkehrssystem in Atlanta MARTA und dass es noch heute zu Widerstand in Teilen Atlantas kommt, wenn neue Netzausbaupläne publik werden. "Es gibt noch immer den Glauben", so einer von Estelles Söhnen, "dass MARTA Kriminalität und Obdachlose in die Bezirke bringt. Man hat Angst, MARTA werde nur von einer armen Schicht der Bevölkerung genützt und vor allem von Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern und man möchte verhindern, dass diese Menschen in gewisse Bezirke kommen". Eine gewagte These dachte ich und doch konnte ich aus meiner eigenen Erfahrung beipflichten, dass MARTA wahrlich einen schlechten Ruf genoss. Für mich selber war es klar, dass ich das Zugsystem nutzen werde und dies bereits auch regelmäßig in Atlanta tat. Ich verstand, woher seine Ansicht kam und wusste auch aus eigener Recherche, dass eine Erweiterung des Zugsystems beispielsweise bis in die 1980er Jahre nach Decatur verhindert wurde, vermutlich genau aus diesen Gründen.
Irgendwann später versunken in den lebendigen Gesprächen der Gruppe, schlug Estelle das Fotoalbum mit den Worten „Enough about politics“ zu. Wir versammelten uns vor einem reichhaltigen, duftenden Buffet, sprachen gemeinsam ein Gebet und reichten uns die Hände. Die Zurückhaltung der Gruppe bemerkend, forderte uns Estelle frohlockend auf, nicht zu schüchtern zu sein und ruhig zweimal zuzuschlagen. Es gab den erwarteten gefüllten Truthahn und vieles mehr, Estelles Schwester erläuterte die einzelnen Gerichte und betonte, es sei ein Muss, Makkaroni und Cheese zu essen und als Nachtisch sich ein ordentliches Stück Süßkartoffelkuchen zu gönnen. Mit voll beladenen Tellern kehrten wir zum gemeinsamen Tisch zurück, aßen, tranken und erzählten und hörten weiter zu. Das Essen war hervorragend, die Zeit verging wie immer zu schnell, gerne hätte ich mehr Geschichten und Anekdoten von der spannenden Familiengeschichte gehört.
Die Gelegenheit Einblick und Teilhabe an Erzählungen und Erfahrungen von Zeitzeugen der Human Rights Movement zu bekommen, bot sich mir in Atlanta nur noch einmal danach, viele beteuerten, es werde oft nicht gerne darüber geredet und eine öffentliche Diskussion zu diesem Thema nur spärlich geführt. Estelle und ihre Familie haben mit uns an diesem Tag wertvolles Wissen und Erfahrungen geteilt und darüber hinaus ihre persönliche Familiengeschichte, sie ließen uns teilhaben an ihrem Erlebten. Dabei haben sie nicht nur eine Gruppe Fremde kulinarisch verwöhnt, ihnen ihre Türen geöffnet und damit ihre Gastfreundlichkeit zum Ausdruck gebracht, sondern uns an diesem Tag viel mehr geboten und uns Geschichten mitgegeben die mir halfen, mein noch immer als sehr neu empfundenes Umfeld besser zu verstehen und die gesellschaftlichen Strukturen in Georgia und vor allem in Atlanta besser nachvollziehen zu können.
Am Weg nach Hause war ich froh und dankbar, diese Einladung erhalten und angenommen zu haben und führte mir nochmals vor Augen, dass es oft nicht absehbar ist, wie sich Momente und Situationen entwickeln und dass man spontan sein soll und Gelegenheiten ergreifen soll. Vor allem aber auch, dass man nicht davor zurückscheuen soll, viele Fragen zu stellen. Estelle und ihre Familie haben sich an diesem Tag geöffnet und sehr Persönliches geteilt, sie haben diesen Tag zu einem besonderen gemacht. Zurück im Auto erinnerte ich mich an den Heimwehschrein Mayerhoffs und dass ich schon seit Wochen nicht mehr daran gedacht hatte. Ich erinnerte mich an all die Ängste und Sorgen, die ich anfangs hatte und wie weit weg sie zu liegen schienen.
Eva Greisberger is a graduate of the Academy of Fine Arts Vienna and was a Fulbright FLTA at Agnes Scott College in Decatur (near Atlanta), GA. Photo courtesy of Eva Greisberger.